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„Die Discounter haben überdurchschnittlich profitiert“

Michael Koch, Bereichsleiter Gartenbau bei der Agrarmarkt-Informations-Gesellschaft (AMI) und Autor des European Statistics Handbook

Michael Koch, Bereichsleiter Gartenbau bei der Agrarmarkt-Informations-Gesellschaft (AMI) und Autor des European Statistics Handbook

Herr Koch, was hat dem europäischen Frischesektor im vergangenen Jahr am meisten Sorgen bereitet?

Neben den politischen Rahmenbedingungen, die beachtet werden müssen, hat sich vor allem einmal mehr gezeigt, wie entscheidend die Witterungsbedingungen für die Obst- und Gemüsemärkte sind. Das gilt übrigens nicht nur im Freiland, sondern auch im geschützten Anbau, denn fehlende Sonneneinstrahlung lässt auch im Gewächshaus das Gemüse langsamer wachsen. 2023 war wirklich alles dabei – von hohen Temperaturen und extremer Sommertrockenheit bis hin zu Stürmen, Starkniederschlägen und anhaltenden Regenfällen. Es gibt praktisch kein Land in Europa, das nicht in irgendeiner Weise betroffen war.

Und vom Wetter abgesehen?

Sicherlich die Kostensteigerungen, die sich über die gesamte Wertschöpfungskette ziehen. Die Preise für Saat- und Pflanzgut, Pflanzenschutzmittel und Maschinen sind 2023 noch einmal gestiegen. Der Transport hat sich durch die gestiegenen Kraftstoffpreise verteuert, und in den Supermärkten schlägt der Energiebedarf für Kühlung und Beleuchtung zu Buche. Hinzu kommt die mangelnde Verfügbarkeit von Arbeitskräften. In der Produktion betrifft das – zumindest in Ländern wie Deutschland oder den Beneluxstaaten – vor allem die arbeitsintensive Ernte. Europaweit fehlen LKW-Fahrerinnen und -fahrer, und die Speditionen fahren eben nicht mehr jede Tour, sondern müssen schauen, wo die Fahrerinnen und Fahrer verfügbar sind. Auch wurde der Mindestlohn nicht nur in Deutschland in den vergangenen Jahren mehrfach erhöht. All dies trifft die Branche enorm.

Wie haben sich die Witterungsbedingungen auf die Ernten ausgewirkt?

Die Obsternte liegt europaweit etwas unter dem Niveau von 2022, was hauptsächlich auf die niedrigere Apfelernte zurückzuführen ist. Durch die niedrigen Temperaturen im Frühjahr gab es wenig Insektenflug. Entsprechend schlecht war die Bestäubung und damit der Fruchtansatz. Die Gemüseernte schätzen wir insgesamt etwas höher ein als 2022. Das liegt vor allem daran, dass 2023 die Wasserversorgung global etwas besser war als im Vorjahr. Mitte September hat es unter anderem in Deutschland, Frankreich und dem Benelux-Raum anhaltend geregnet. Lagergemüse wie Kopfkohl, Sellerie oder Möhre hat dadurch an Gewicht zugelegt, sodass die reine Erntemenge hier recht hoch war. Allerdings wird sich erst im Zuge der Auslagerung und Vermarktung zeigen, ob die feuchte Witterung in der Erntezeit zu höheren Lager- und Sortierverlusten geführt hat.

Lassen sich neben diesen Produktgruppen weitere „Gewinner“ und „Verlierer“ ausmachen?

2021 und 2022 hatten wir in Südeuropa erhebliche witterungsbedingte Einbußen bei Steinobst. 2023 waren die Bedingungen dort besser, sodass Pfirsiche, Nektarinen und Aprikosen der Gewinnerseite zugerechnet werden können. Ertragsminderungen gab es hingegen bei kleinen Zitrusfrüchten – den Easy Peelern – und Melonen aus Spanien sowie bei Tafeltrauben aus Italien. Auch feines Kohlgemüse, wie Blumenkohl, Kohlrabi und Brokkoli, hat unter den starken Witterungswechseln gelitten, was sich bis ins Jahr 2024 hineingezogen hat. In Frankreich, dem Hauptlieferanten für Blumenkohl, standen die Felder zum Teil schon während der Produktion unter Wasser, deswegen war das Angebot zu Jahresbeginn sehr eingeschränkt.

Zeigen sich die Ernteschwankungen auch im internationalen Handel?

Prinzipiell schon. Ein Beispiel sind Zwiebeln. Hier war die Ernte 2022 europaweit so klein, dass frühzeitig Ware aus Übersee benötigt wurde und die Importe, vor allem aus Neuseeland, sichtbar gestiegen sind. Aber nicht alle Entwicklungen wirken sich ja unmittelbar aus. Nehmen Sie beispielsweise Südfrüchte wie Bananen und Ananas. Hier wurden in einigen Ländern aufgrund der Preissteigerungen weniger Dünge- und Pflanzenschutzmittel eingesetzt, wodurch die Ernten zurückgingen und damit auch weniger Ware für den Export zur Verfügung steht. Dies würde darauf schließen lassen, dass weniger Bananen und Ananas in die Länder der EU importiert worden sind. Für die Ananas gilt das tatsächlich, aber bei Bananen sehen wir das bisher nicht. Vielleicht markiert 2023 aber auch den Rückgang auf ein normales Niveau, weil die Importe 2022 so niedrig waren.

Die Lebenshaltungskosten sind in der EU-27 im Vergleich zum Vorjahr noch einmal gestiegen. Hat sich das auch im Verbrauch von Obst und Gemüse bemerkbar gemacht?

In einigen Ländern sind die Obst- und Gemüsekäufe der privaten Verbraucherinnen und Verbraucher tendenziell leicht gesunken – doch auch hier müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Einbußen gab es auf jeden Fall im Bio-Sektor. Wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher mehr auf das Geld schauen müssen, entscheiden sie sich eben doch eher für den Apfel oder die Tomate aus konventionellem Anbau. Für Deutschland haben wir zudem einen Wechsel der Einkaufsstätten beobachtet. Die Discounter haben überdurchschnittlich profitiert, während insbesondere in den höherpreisigen Einkaufsstätten – etwa Wochenmärkte, Hofläden, Fachgeschäfte – weniger Obst und Gemüse eingekauft wurde.

Wird dieser Trend anhalten?

Ich gehe davon aus, dass die Discounter künftig noch mehr Zulauf erfahren. Die gesamtwirtschaftliche Lage wird sich nicht von heute auf morgen ändern, und dass wir in der Branche wieder ein Tiefpreisniveau erreichen, wie wir es zum Teil vor der Corona-Pandemie hatten, ist relativ unwahrscheinlich.

Wenn sie auf das Marktjahr 2023 zurückschauen: Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Die Aufregung, als in Großbritannien zu Jahresbeginn plötzlich die Obst- und Gemüseregale leergefegt waren. Auf sämtlichen Kanälen wurde diskutiert, ob das im restlichen Europa auch passieren wird. Als Grund wurden damals die veränderten Warenströme infolge des EU-Austritts genannt, aber das ist nur die halbe Wahrheit – den Brexit gab es ja schon vorher. Entscheidend war vielmehr, dass der Lebensmitteleinzelhandel die Ladenpreise für die Verbraucherinnen und Verbraucher stabil halten wollte und daher beschlossen hatte, nicht zu höheren Preisen einzukaufen. Die Lieferanten haben sich daraufhin zahlungswilligeren Abnehmern zugewandt. Das war teilweise also ein hausgemachtes Problem.

Wo sehen sie zukünftig die größten Herausforderungen für die Branche?

Eine ganz entscheidende Rolle wird weiterhin der Umgang mit extremer Witterung spielen. Wir müssen robustere Sorten züchten, die an Sommertrockenheit angepasst sind. Wir müssen den Einsatz von Schutzsystemen wie Hagelschutznetze oder Regenkappen ausbauen, um die Qualität empfindlicher Kulturen wie Kirschen oder Erdbeeren zu sichern. Generell bleibt die Wasserversorgung ein entscheidendes Thema. Wie können wir beispielsweise das Niederschlagswasser, das im Winter anfällt, speichern und im Sommer in der Produktion verwenden? Eine Herausforderung bleibt auch die Verfügbarkeit von Arbeitskräften über die gesamte Produktion hinweg – von Erntehelferinnen und Erntehelfen über das Transportwesen bis hin zu Verkäuferinnen und Verkäufern. Das schließt die Frage ein, inwieweit sich Arbeitsschritte mechanisieren oder automatisieren lassen.

Witterungsbedingungen und Arbeitserledigung stehen also weiterhin an erster Stelle …

Ja. Aber die Branche muss es auch schaffen, eine gute Verbraucherinformation aufzubauen. Die Konsumentinnen und Konsumenten wissen häufig nicht, wie die Abläufe in der Produktion und im Handel tatsächlich sind. Daher haben sie kein Verständnis für die Kostensteigerungen, die sie ja zum Teil mittragen müssen. Zudem ist das große Potenzial, das Obst und Gemüse für die sich ändernden Ernährungsgewohnheiten hat, oft nicht bekannt. Nehmen Sie zum Beispiel Fleischersatzprodukte, die oft hoch verarbeitet sind. Warum nicht stattdessen einen Sellerie oder Champignon panieren und als Schnitzel braten? Mit Obst und Gemüse haben wir das Ersatzprodukt schlechthin.

Gibt es bei allen Problemen auch etwas, worüber die Branche sich 2023 freuen konnte?

Sicherlich die Tatsache, dass die gestiegenen Lebensmittelpreise jetzt auch bei den Erzeugern angekommen sind. Ob das ausreichend war, um die Kostensteigerungen komplett aufzufangen, steht auf einem anderen Blatt. Aber die Entwicklung geht auf jeden Fall in die richtige Richtung.

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